Männer spielen eine weibliche Rolle. Das ist Tradition in der
Peking-Oper – doch die Tradition ist nun vom Aussterben bedroht.
Wen Ruhua ist ein Schauspieler erster Klasse auf Staatsebene.
Allerdings bekam er im vergangenen Jahr nur einen einzigen Auftrag
- und in diesem Jahr war er noch gar nicht auf der Bühne. Dabei
sagt er: "Ich fühle mich als Sänger noch fit und will die Bühne
nicht vorzeitig verlassen!"
Wen Ruhua hat Jahrzehnte lang eine klassische weibliche Rolle
gespielt. Er ist jetzt schon 53 Jahre alt – trotzdem gilt er als
derzeit jüngster Peking-Opernsänger in weiblicher Rolle.
Die Peking-Oper entstand während der Zeit der Qing-Dynastie, also
zwischen 1644 und 1911. Damals wurden fast alle Rollen, selbst die
weiblichen, von Männern gespielt. In feudalen Zeiten war es für
chinesische Frauen ein Tabu, in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Nach Gründung der Volksrepublik 1949 änderte sich diese Situation
gründlich. Frauen arbeiten seitdem in verschiedensten Berufen mit
ihren männlichen Kollegen zusammen - und in manchen Berufen sind
sie sogar besser als die Männer.
Inwieweit das auch auf die Dan-Rolle in der Peking-Oper zutrifft,
ist zwischen den Experten umstritten. Fakt ist: Derzeit gibt es an
der Beijinger Theaterhochschule und auch an der chinesischen
Theaterhochschule nicht einen einzigen männlichen Studenten, der
die weibliche Dan-Rolle studiert. Ausgebildete Sängerinnen haben
auf der Bühne diese einst nur von Männern gespielte Rolle
übernommen. Selbst viele alte Peking-Opernfans sehen mittlerweile
gern Frauen in Dan-Rolle. Zhang Xuefeng, ein Peking-Opernliebhaber,
meint, Männer in weiblichen Rollen seien unnatürlich. Deshalb sei
es korrekt, wenn Frauen Frauen mimten.
Gegen Ende der Qing-Dynastie waren vier berühmte männliche
Dan-Darsteller hervorgetreten, u.a. Mei Lanfang, Shang Xiaoyun,
Cheng Yanqiu und Xun Huisheng. Mei Lanfang, der berühmteste unter
den vier Künstlern, hat zahlreiche schöne Frauenfiguren
dargestellt. Sein Rollenspiel hat selbst Prominente wie Charlie
Chaplin, Konstantin Sergejewitsch Stanislawskij und Bert Brecht
fasziniert.
Mei Baojiu, der Sohn von Mei Lanfang und ebenfalls ein sehr
bekannter Dan-Darsteller, betont: Männer in der Dan-Rolle – das sei
im wahrsten Sinne des Wortes eine traditionelle
Darstellungskunstform.Es gehe dabei nicht einfach nur um das
Imitieren von Frauen. Es sei sehr bedauernswert, wenn dieser Beruf
wegen mangelndem Nachwuchs aussterbe. Meis Meinung nach können
Frauen die Dan-Rolle der Männer nicht ausreichend ersetzen. Denn
sowohl von der Körperkraft, als auch von der Dynamik der Stimme und
der kontinuierlichen Präsenz auf der Bühne her hätten Frauen
Nachteile. Mei lehrt zu Hause seinen Neffe die Dan-Rolle.
Manche Leute in China lästern jedoch, die männlichen Dan-Darsteller
seien auch im wirklichen Leben zu feminin. Mitunter werden sie
sogar als „schwul“ beschimpft. Wen Ruha setzt dagegen, ein guter
Schauspieler werde niemals Kunst und Leben verwechseln.
Anders argumentiert der Theaterforscher Huang Zaimin. Er sagt, die
Ästhetik müsse mit der modernen Gesellschaftsentwicklung mithalten.
Männer in männlicher Rolle und Frauen in weiblicher Rolle seien
heute für die Zuschauer akzeptabel, Männer in weiblicher Rolle
dagegen würden als abnormal empfunden – sie symbolisierten eine
längst vergangene Ursprungszeit der Gesellschaft. Das Aussterben
der männlichen Dan-Rolle widerspiegele die natürliche Entwicklung
der Gesellschaft und den Respekt vor der menschlichen Natur.
Die Streitigkeiten über dieses Thema werden sicherlich noch länger
fortdauern. Interessanterweise ist die männliche Dan-Rolle
außerhalb des chinesischen Festlands und im Ausland bei den
Zuschauern nach wie vor sehr beliebt. Aufführungen von männlichen
Dan-Darstellern wie Wen Ruhua und Song Changrong finden dort viel
Beifall. Und bei einem Wettbewerb von Peking-Opern-Liebhabern trat
sogar ein 32 Jahre alter britischer Ingenieur in Frauenrolle auf:
Er spielte erfolgreich die Rolle Yang Guifei – das ist eine
Schönheit aus Zeiten der Tang-Dynastie.
Ebenfalls interessant ist das Phänomen, daß Frauen in männlicher
Rolle in der in Südostchina weit verbreiteten Yue-Oper bislang noch
nie kritisiert worden sind. Dabei gab es auch männliche Darsteller,
die diese Männer-Rolle zu spielen versuchten – doch die Zuschauer
bevorzugen bis heute Frauen. Die Anzahl der männlichen Darsteller
innerhalb der Yue-Oper ist deshalb zurückgegangen.
Eine diplomatische Ansicht über den Peking-Oper-Streit vertritt der
Leiter des Theaterforschungsinstituts beim Kulturministerium, Wang
Ankui. Er sagt, es sei doch ein gutes Phänomen, wenn die Leute ihre
Geschmacksunterschiede nicht verschwiegen und sich offen
aussprächen. Ähnlich sein Kollege Yin Xiaodong, im
Kulturministerium mit der Förderung der Peking-Oper betraut: Yin
sagt, die Regierung bemühe sich sehr um die Rettung der
Peking-Oper, wolle jedoch nicht mit konkreten Maßnahmen in derart
konkrete Dinge eingreifen. Das Schicksal der männlichen Dan-Rolle
entscheide sich in einer offenen Gesellschaft von selbst, sagt Yin
Xiaodong. Es solle daher auch bewußt offengelassen werden.