Jede Stadt hat ihre eigene Wohnkultur. Dadurch unterscheidet sie sich von anderen.
Wie die Fachwerkhäuser die moselfränkische Landschaft prägen, so sind für Altbeijing die ebenerdigen grauen Wohnhäuser mit einer Mauer in Geschosshöhe drum herum typisch. Ganze Wohnviertel bestanden früher aus diesen Wohnhöfen namens „Siheyuan“. Enge, manchmal auch verwinkelte Gässchen gliedern ein solches traditionelles Wohngebiet in der Innenstadt Beijings in mehrere Wohnhöfe. Noch vor wenigen Jahren spielte sich das Alltagsleben der einfachen Beijinger Bürger hauptsächlich in derartigen Wohnhöfen ab.
Um in Beijing Platz für eine moderne Stadt mit moderner Infrastruktur und Hochhäusern zu schaffen, rückten Bulldozer vielen der engen Hutongs mit den schäbigen Wohnhöfen zu Leibe. Besonders in der Innenstadt sind aber einige einst etwas edlere Gassen-Viertel erhalten geblieben. Sie stehen heute unter Denkmalschutz.
Wer durch die Hutongs flaniert, begegnet auf Schritt Erinnerungen an das alte Beijing. Inzwischen bieten 3 Reiseagenturen Beijing-Besuchern die Möglichkeit, einen Streifzug durch die Hutongs zu unternehmen und einen Hauch Nostalgie zu verspüren – bei einer Rikscha-Tour.
Eine der Reiseveranstalter organisiert eine Rikscha-Tour durch den Stadtteil Xuanwu – einem traditionellen kulturellen Schmelztiegel hier in Beijing. Denn in diesem Stadtteil lebten einst – anders als in den zumeist von Adligen und Mandarinen bewohnten nördlichen Stadtteilen - Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten und auch Zuwanderer aus anderen Landesteilen.
Bei Weijiang ist der Chef der Reiseagentur, die die Rikscha-Tour anbietet, und er erzählt uns etwas über diese Touren:
„Unsere Reiseagentur besteht seit mehr als 3 Jahren. Sie ist der einzige Rikscha-Veranstalter im Süden der Innenstadt Beijings. In den letzten 3 Jahren haben wir insgesamt über 21.000 Touristen auf einer Rikscha-Tour begleitet.“
Und der Chef der Reiseagentur fügt nicht ohne Stolz hinzu, dass das Angebot seiner Agentur immer populärer wird - und bei ausländischen Touristen sehr gut ankommt.
So – und dann haben wir uns natürlich auch auf eine solche Rikscha-Tour begeben. Wir waren dabei zusammen mit einer Familie aus Missouri in den USA unterwegs, um die labyrithartigen Wohnviertel im Süden der Stadt Beijing zu entdecken.
Eine Rikscha-Tour ist bequem und interessant. Die Reiseführer haben selbstverständlich Fremdsprachen-Kenntnisse. Und für chinesische Touristen ist der Rikscha-Fahrer selbst ein idealer Reisebegleiter. Die Fahrer, die kräftig in die Pedale der Fahrrad-Rikscha treten, sind zumeist stämmige und untersetzte Männer mittleren Alters, die sich gut in der Gegend auskennen.
Unterwegs erzählen sie dann den Reisenden das A und O des Wohnviertels.
Höhepunkt einer solchen Rikscha-Tour ist dann der Besuch in einem Siheyuan-Wohnhof. Zusammen mit der amerikanischen Familie waren wir also auch in einem dieser traditionellen Höfe, und Reiseführer Hu Yueqi erzählt der Familie und uns alles, was man über so einen Wohnhof namens Siheyuan wissen muss:
„Siheyuan ist ein Wohnhof, der an allen vier Himmelsrichtungen von Häusern umgeben ist. „Si“ ist die chinesische Grundzahl Vier; „He“ symbolisiert das Zusammenleben mehrerer Generationen unter einem Dach in einem Siheyuan. Und in der Mitte des Siheyuan ist normalerweise ein Innenhof.“
Wie Herr Hu weiter erzählt, ist die Straßenfront eines Siheyuan-Hofes durch eine hohe graue Mauer und ein Portal mit Holztüren und Bronzenklopfern gekennzeichnet. Ein unentbehrlicher architektonischer Bestandteil der Fassade ist die Türschwelle. Und was es nun mit der Türschwelle auf sich hat, erzählt Herr Hu:
„Die Türschwelle heißt auf Chinesisch „Menkan“. Sie diente eigentlich dazu, zu viel Staub und kleine Tiere wie Mäuschen abzuhalten. Außerdem glauben die Siheyuan-Bewohner zu wissen, sie könne auch Unglück fernhalten. Eltern verbieten deshalb ihren Kindern, an der Schwelle zu stehen, weil das Unglück bringen würde...“
Der Siheyuan-Wohnof ist dabei selbst ein Träger der chinesischen Kultur. Die verschiedenen Wohnräume des Hofes waren nämlich den Familienangehörigen streng nach ihrem Alter und nach ihrer Generationsreihe innerhalb der Familie zugeordnet. Der Hauptraum im Norden, warm im Winter und kühl im Sommer, wurde von den älteren Generationen bewohnt. Dazu Herr Hu:
„Die Haupträume sind meistens höher als die übrigen Räume des Hofes. Sie werden von älteren Menschen bewohnt. Die Dienerschaft der Familie wohnte in den gegenüberliegenden Räumen. Und Gäste der Familie wurden in einem der an die Haupträume angrenzenden Zimmer untergebracht. Räume an der östlichen Seite waren für Männer, und die westlichen Seitenräume für Frauen.“
Nicht nur die traditionelle chinesische Familienhierarchie findet in einem Siheyuan-Wohnhof ihren Ausdruck. Zudem zeigt sich hier auch das Verständnis der Architekten für das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung: Die Menschen sollten nah dran sein an der Natur, um gesund zu bleiben. Ein Siheyuan-Hof sollte deshalb nicht ein total verschlossener Raum sein, der die Bewohner von ihren Nachbarn entfremdet. Nachbarschaftliche Kontakte gehörten also fest zur Soziologie eines Wohnhofes. So kann man während der Rikscha-Tour auch bei einer Familie in einem Siheyuan-Hof zu Gast sein. Wir besuchten die Familie Ren. Der 63-jährige Herr Ren lebt seit seiner Geburt in einem typischen Siheyuan-Wohnhof, und er genießt das Leben hier, wie er sagt:
„Nach den traditionellen Gesundheitsvorstellungen der Chinesen soll man ja erdverbunden leben. So ist die Wohnung in einem ebenerdigen Haus vor allem für die älteren Leute besser als in einem Hochhaus. Außerdem bietet das Leben in einem Wohnhof mehr Möglichkeiten, Kontakte mit anderen Familienangehörigen oder Nachbarn zu pflegen, als in einem Apartment. Im Innenhof kann man auch noch Blumen züchten.“
Der große Unterschied zwischen den chinesischen und den westlichen Wohnungen hat eine der Besucherinnen aus Missouri, beeindruckt:
„Die Hofe sehen interessant aus. Bei uns sind die Häuser zwar größer - aber diese hier sind praktischer.“
Letzte Station der Rikscha-Tour ist dann das Zheng-Yi-Ci-Theater, das älteste in Beijing. Im Hof des Theaters kann man eine chinesische Tee-Zeremonien miterleben und sich eventuell auch Abschnitte der Peking-Oper anschauen. Die über 2 Stunden dauernde Rikscha-Tour war für alle ein Erlebnis, und unsere Mitreisende aus Missouri kommt geradezu ins Schwärmen:
„Oh, die Tour hat unheimlich Spaß gemacht. Einfach großartig. Man kann unheimlich viel sehen, und es gibt immer wieder etwas Neues zu entdecken und zu bewundern. Die Tour war gut organisiert, und unser Reisebegleiter sehr freundlich und nett.“
Die Beijinger Stadtregierung entwickelt ein zunehmendes Bewusstsein, das alte Stadtbild von Beijing zu schützen. So stehen inzwischen 25 Gebiete innerhalb der Altstadt unter Denkmalschutz. Und im Stadtteil Xuanwu schnüren die lokalen Verwaltungen für Denkmalschutz und für Tourismus ein Paket, um den intensiven Schutz der Kulturdenkmäler einerseits und einen wachsenden Tourismus andererseits unter einen Hut zu bringen.
Dies wiederum bestärkt Reiseagenturchef Bai in seiner Zuversicht, dass er seine Geschäfte ausbauen und weitere Reiseangebote entwickeln kann. Er sagt:
„Mit der Zeit nehmen wir immer mehr und immer neue Ziele ins Visier. Denn in Xuanwu, diesem Schmelztiegel, gibt es überall verstreut zahlreiche alte Gildenhäuser, Theater und Einkaufstraßen – und natürlich die Siheyuan-Wohnhöfe. All dies ist eng mit dem Leben der einfachen Menschen vor einem Jahrhundert verbunden. Dieses Potential werden wir in Zukunft ausnutzen, um unsere Palette zu bereichern.“
Genau, und die einzigartigen Reize des Xuanwu- Kiezes und die daraus erwachsenden Möglichkeiten für Geschäftsleute und Touristen sollen uns nun noch etwas ausführlicher beschäftigen.
Bai Weijiang weist nämlich immer wieder darauf hin, sich die Bilder in den südlichen Stadtteilen mit ihrer Offenheit deutlich von denen im Norden der Innenstadt unterscheiden. Schließlich trafen hier im Süden unterschiedliche Kulturen und Ideen aufeinander, unterschiedliche Berufe und gesellschaftliche Kreise, und all dies brachte Vielfalt und ein pulsierendes Leben. Dagegen war das Bild im Norden eher vom ebenso prunkvollen wie streng ritualisietren und mitunter eintönigen Leben der kaiserlichen Hofschranzen und Verwaltungsfürsten geprägt. Im Süden sind die Gassen enger und verwinkelter, labyrinthartig, im Norden war alles mit dem Lineal ausgerichtet. Der Baustil der Siheyuan-Wohnhöfe im Süden von Beijing vereint nord- und südchinesische Elemente. All dies dürfte für ausländische Touristen hochinteressant sein.
Wenn Sie nun während eines Beijing-Aufenthaltes eine solche Rikscha-Tour unternehmen möchten, können Sie dirket die Reseagentur aurufen und sich für eine Tour anmelden. Die Telefonnummer ist 6302 7010. In vielen Hotels in Beijing finden Sie Broschüren über die Rikscha-Tour, die Ihnen helfen, sich mit der Reiseagentur in Verbindung zu setzen.