Wenn der Verwaltungsbehörde für Industrie und Handel die Macht zur
Zensur der ideologischen Einstellung der Leute verliehen wird,
sollte auch anderen Abteilungen, die ebenso wichtig sind, die
gleiche Macht gewährt werden. Sollte nicht am besten jeder eine Art
Selbstkontrolle ausüben, um die ideologische Reinheit der
Gesellschaft beizubehalten?
Wir leben heute in einer liberalen Gesellschaft, die durch
ideologische Befreiung, Rechtsstaatlichkeit und soziale Toleranz
gekennzeichnet ist. Daher sollte die Verwaltung der Gesellschaft im
Rahmen des Gesetzes durchgeführt werden, ohne sich willkürlich und
grob in die Rechte der Öffentlichkeit einzumischen. Wenn man ohne
weiteres feststellt, daß der, der von "satt und warm gekleidet"
spricht, an "sexuelle Freuden" denkt und dies als ideologisch
problematisch bewertet, so ist dies meiner Meinung nach die
Fortsetzung der Logik der feudalen Autokratie.
Gao Lixue (ein Kolumnist der Chinesischen Jugendzeitung):
Vielleicht bin ich ein bißchen sensibel, was das Wort "Ideologie"
angeht. Ich kann aber wahrhaftig nicht verstehen, warum sich die
Verwaltungsbehörde für Industrie und Handel in das Denken der Leute
einmischen soll. Ist die Verwaltungsbehörde für Industrie und
Handel etwa "das Büro für die Verbesserung der Moral der
Geschäftsleute"? Wenn nicht, wie kommt sie dann dazu, sich in die
Sprache, die die Inserenten gebrauchen, einzumischen? Natürlich
weiß jeder in China, was dem Satz "wenn man satt und warm gekleidet
ist" folgt. Auch ohne Hinweis ist die "sexuelle Anspielung", die
hinter der Zeile steckt, deutlich. Aber auch eine Anspielung ist
nur eine Anspielung. Wie kann sich die Verwaltungsbehörde für
Industrie und Handel in das Denken der Leute einmischen, solange
das Werbegesetz nicht verletzt worden ist.
Ich meine damit nicht, daß am Inserenten nichts auszusetzen ist.
Aber dies ist eine Situation, die uns in Verlegenheit bringt, und
solange wir an die Rechtmäßigkeit des Gesetzes glauben und sie
verteidigen wollen, müssen wir diese Situation hinnehmen. Wenn ein
Tischtennisspieler einen Kantenball schlägt, kann der
Schiedsrichter nur ratlos zusehen, weil der Spieler die Regeln
nicht verletzt hat. Regeln und Gesetze sind inflexibel und werden
es immer sein. Ein Gesetz mit großer Flexibilität kann nicht als
ein Gesetz betrachtet werden.
Ye
Zhenhua (Leiter der Werbeagentur, die die umstrittene Reklame
entworfen hat): Diese Reklame ist ein Produkt einer fünfminütigen
Inspiration. Sie bedient sich der in China allgemein bekannten
alten Redensart "Wenn man satt und warm gekleidet ist, denkt man an
sexuelle Freuden". Unser Ziel ist es gewesen, die Aufmerksamkeit
des Publikums zu erhalten und es zu beeindrucken. Diese Reklame
wurde von der betreffenden Abteilung genehmigt und ist damit
absolut legal. Wir hatten es nicht darauf abgesehen, eine Lücke im
Gesetz auszunutzen. Unter den neuen historischen Bedingungen sollte
diese alte Redensart sowieso neu intepretiert werden. Wenn wir satt
und warm gekleidet sind, können wir schließlich an vieles denken.
Wir können z. B. eine Wohnung kaufen oder eine Reise machen. Warum
müssen wir unbedingt an Sex denken? Kleidung, Nahrung, Wohnung und
Reisen sind die vier Grundbedürfnisse der Menschen. Da wir uns
nicht mehr in erster Linie mit Kleidung und Nahrung beschäftigen
müssen, schlagen wir vor, daß man, wenn man satt und warm gekleidet
ist, an die Innendekoration der Wohnung denken sollte.
Ein Beamter der Verwaltungsbehörde für Industrie und Handel der
Stadt Nanjing: Wir haben diese Reklame genehmigt. Bei der
Beurteilung einer Reklame prüfen wir hauptsächlich, ob es
offensichtliche Worte, die sich auf pornographische oder ungesunde
Taten und Gedanken beziehen oder Worte, die den Inserenten
überbewerten und andere herabwürdigen, gibt. Wir können nichts
weiter tun mit dieser Art von "Kantenball".
Einschlägige Bestimmungen des Werbegesetzes der Volksrepublik
China:
Artikel 3: Werbung soll wahr sein und dem Gesetz und den
Forderungen für die Entwicklung der sozialistischen Kultur und
Ethik entsprechen.
Artikel 7: Der Werbeinhalt soll gesund sein, die Verbesserung der
Qualität der Waren und Dienstleistungen fördern, die legitimen
Rechte und Interessen der Konsumenten schützen, die öffentliche
Moral und die Berufsethik einhalten und die Würde und die
Interessen des Staates wahren. Werbung darf weder die öffentliche
Ordnung beeinträchtigen noch den vorherrschenden gesellschaftlichen
Sitten zuwiderlaufen; weiter darf sie keinen pornographischen,
abergläubischen, schreckenerregenden, gewalttätigen oder
widerwärtigen Inhalt haben.
Artikel 32: An öffentlichen Werbeflächen darf keine Reklame, die
die Arbeit oder das Leben der Bevölkerung beeinträchtigt oder das
Stadtbild besudelt, angebracht werden.